Leben und Werk
  Bruckner-Werke
  Brucknerorte
  Literatur
  Bruckner-Timeline
  Meldungen
  Links / Adressen
  Sitemap

Anton Bruckner geht wandern.
Eine Zwieselalmbesteigung im Jahre 1888

 
 
 

Artikel aus
OÖ Heimatblätter 2015
Heft 1/2 von Dr. Klaus Petermayr



  Autor: Klaus Petermayr

 


"Wer stiege nicht auf die Zwieselalpe, wenn Zeit und Umstände es gewähren" Gustav Adolf Gassner, Österr Touristenzeitung, Jg. 1882, S. 261

Über Bruckners tatsächliches Verhältnis zu Natur und Landschaft – das hier ausdrücklich nicht mit etwaigen Naturschilderungen im Werk verquickt werden soll1 – gibt es kaum verlässliche Zeugnisse. Wohl ist davon auszugehen, dass der Komponist selbst in Linz und Wien kein „Stadtmensch“ wurde, und dies primär deshalb, weil er sich generell eher dem ländlichen Milieu verbunden fühlte, wo er ja aufwuchs und seine Sozialisierung durchlief.2 Nicht zu vergessen ist auch, dass Bruckner während seiner Zeit als Stifts-Sängerknabe und dann als Schulgehilfe in Kronstorf (1843–1845) die engere und weitere Umgebung St. Florians auf Schusters Rappen förmlich durchpflügte, wobei ihm das sanft gewellte Hügelland mit seinen wogenden Kornfeldern unter einem hohen Himmel zur, wie gelegentlich kolportiert, wichtigen Inspirationsquelle für das spätere symphonische Schaffen geworden war.

Ob man bei Bruckner aber wirklich von einer wie auch immer gearteten „Liebe“ zur Natur bzw. zur ruralen Landschaft sprechen kann, bleibe dahingestellt. Definitiv gegeben ist jedenfalls ein gewisses Nahverhältnis, vor allem zu Bergen und Gebirgen, primär gespeist aus der Faszination, die Extremes und Monumentales auf den Meister seit jeher ausübte. So war Bruckner etwa 1886 im Rahmen einer Bahnreise von München nach Wien derart erpicht, den Großglockner (3798 m) zu sehen, dass er – mit dem Nachtzug – extra einen Abstecher nach Zell am See unternahm. Zurück in Wien, stellte sich bald Enttäuschung ein, denn er musste erfahren, dass man ihn anstatt des Großglockners auf das Kitzsteinhorn (3203 m) aufmerksam gemacht hatte. Bruckners Interesse an gigantischen, überdimensionalen Erscheinungsformen und ihrer Betrachtung zeigte sich u. a. schon 1880, als er während seiner Schweizreise unbedingt den Montblanc in Augenschein nehmen wollte – und den mit 4810 Metern himmelnächsten Gebirgsstock im Alpen- bzw. EU-Raum auch tatsächlich besuchte. Dieses „Faible“ mochte ihn ebenso zur Ersteigung der Zwieselalm bei Gosau im Spätsommer 1888 bewogen haben, galt diese im 19. Jahrhundert doch längst als einer der bevorzugten Aussichtspunkte Oberösterreichs – mit atemberaubenden Nahblicken v. a. auf den Dachstein, den mit 2995 Metern höchsten Gipfel des Landes, der mit seinen damals noch gewaltigen Gletschern die Szenerie über den Gosauseen eindrucksvoll dominierte.

die ZwieselalmAbb. 2 oben: Die Zwieselalm mit dem Zwieselalmhaus und den Donnerkogeln um 1910. Ansichtskarte aus der Sammlung des Augustiner Chorherrenstiftes St. Florian.

Abb. 3 unten: Zwieselalmhaus und Zwieselalm von Westen, um 1920. Im Hintergrund Kalmberge und Plassen. Ansichtskarte aus der Sammlung Klaus Petermayr.

Zwei Gründe sind es, warum jener Marginalie in Bruckners Biografie Bedeutung beigemessen wird: zum einen zeigt sie den Komponisten als im Rousseau’schen Sinn echten Wanderer, der sich nicht scheut, um des Naturerlebens und der Aussicht willen die Strapazen eines längeren Aufstiegs in Kauf zu nehmen, zum anderen lassen sich die Stationen gerade der Zwieselalmwanderung anhand kurz darauf entstandener Alpinliteratur detailreich nachvollziehen. Letzterer Aspekt verdient auch deshalb spezielle Beachtung, weil diese Literatur die ursprüngliche Schönheit einer inzwischen durch den Massentourismus schwer in Mitleidenschaft gezogenen Landschaft dokumentarisch belegt.

Bevor auf Bruckners Zwieselalmtour als Hauptthema dieses Beitrags näher eingegangen wird, seien die vorausgegangenen Salzkammergutaufenthalte des Komponisten in aller Knappheit skizziert. Im Sommer 1863 ist der Meister erstmals in Ischl – nachweisbar – anzutreffen. 3 Bruckner folgte damals der Einladung seines einstigen Präparandie- Kollegen und Freundes Johann Nepomuk Attwenger (1824–1893), der im Ort zunächst Schullehrer, später Sparkassendirektor war.4 Mögliche frühere Besuche in Ischl sind schwer zu verifizieren, da Bruckner – stets zu Gast bei Freunden in den Kurlisten des Marktes nicht geführt wurde. Ab 1878 „wirklicher“ kaiserlicher Hoforganist, war er danach regelmäßig zum Geburtstag des Kaisers (18. August) sowie zu anderen festlichen Anlässen des Herrscherhauses nach Ischl gekommen. Rasch geschlossene Freundschaften, u. a. Mit Schuldirektor Franz Autengruber (1841–1903), Chorregent Rupert Wastler (1834–1902), Benefiziat Franz Fuchs (1845–1930), Hermann Stieger (1843–1928) oder dem Komponisten Josef Vockner (1842–1906), machten ihn im Markt bald zur gern gesehenen und gehörten Persönlichkeit. Von Ischl aus besuchte Bruckner des Öfteren Goisern,5 wo er sich mit den Organisten Franz Xaver Perfahl (1817–1883) und Johann Georg Ernst Fettinger (1824–1887) traf. Mit Freunden bestritt er Ausflüge ins Innere Salzkammergut, die zum Hallstättersee, ins Gosautal oder eben auf die Zwieselalm führten. Eine große Ehre bedeutete für Bruckner die Einladung, zur Hochzeit der Kaisertochter Erzherzogin Marie Valerie (1868–1924) mit Erzherzog Franz Salvator (1866– 1939) am 31. Juli 1890 in der Ischler Pfarrkirche die Orgel zu spielen. Die vom Komponisten eigens hierfür erstellte Improvisationsskizze (WAB deest) ist das einzige erhalten gebliebene Dokument, das Bruckners auch auf diesem Gebiet vielfach gerühmte Kunst in Notenform bezeugt. Ein letztes Mal dürfte sich der Meister im Salzkammergut (Ischl) 1892 aufgehalten haben.6

Der GosauschmiedAbb. 1: Der Gosauschmied. Aus: Eduard Pichl: Hoch vom Dachstein an! München 1936, S. 83.

Nun aber zur Ausgangssituation bzw. zum „Einstiegspunkt“ der Zwieselalm- Partie von 1888. Bruckners Biographen August Göllerich (1859–1923) und Max Auer (1880–1962) berichten: Mit seinem Schüler Josef Vockner machte Bruckner einen Ausflug auf die Zwieselalm.
Sie übernachteten beim ,Gosauschmied‘, einem nicht sehr einladenden hölzernen Gebäude, in dessen Wirtsstube ,schwarze Gesellen‘ herumsaßen. Bruckner flüsterte Vockner zu: „Du, da schaut’s verdächtig aus!“ Sie übernachteten auf dem Heuboden, der mit der Stube durch eine Leiter verbunden war. Bruckner fürchtete sich und frug: „Du, hast a Waff’n mit?“ Als nachts gar jemand die Leiter hinaufgestiegen kam, war der Meister ganz außer sich und gestand dann Vockner: „Du, da hab’ i’ mi’ g’fürcht’.“7
Im Vordergrund steht bei Göllerich und Auer die Schilderung der „schwarzen Gesellen“ – Köhler oder eventuell Wilderer, die sich vor ihren Pirschzügen für gewöhnlich das Gesicht mit Ruß schwärzten – und nicht die Almwanderung.
Für deren Nachvollzug ist jedoch die Nennung des Nächtigungsortes wichtig, da so der Weg bestimmt werden kann, den Bruckner und Vockner als Anstieg benützten.

Als Zwieselalm bezeichnet man eine an der Grenze zu Salzburg gelegene Hochweide unmittelbar nördlich der sogenannten Donnerkogeln (1919 m bzw. 2054 m). Diese wird wiederum im Norden – an dem Edalmgatterl – von den Edalmen begrenzt, die sich etwa bis zum Falmberg (1466 m) erstrecken. In der Folge erreicht der sich daran anschließende Höhenzug den Pass Gschütt (957 m). Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verfügte die Zwieselalm über eine Unterkunft (Alpenrose), die als Zwieselalmhaus bzw. -hütte heute noch besteht.

Bereits im 19. Jahrhundert galten sowohl das Almgelände als auch dessen höchste Erhebung, die Zwieselalmhöhe (auch Hühnerkogel genannt, 1585 m), als überregional frequentierte Ausflugsund Wanderziele. Die leicht zugängliche Zwieselalpe, heißt es etwa schon 1865, sei in den letzten Jahren zur Modealpe gleich dem Schafberge geworden.8 Diese Beliebtheit gründete vor allem in der umfassenden Nah- und Fernsicht. Aber auch der vielfältigen Flora wegen war das Gebiet bekannt und beliebt. Dazu schreibt 1882 Gustav Adolf Gassner in der Österreichischen Touristenzeitung:
[…] der Pflanzenfreund sammelt aus dem nahen Gestein manches alpine Pflänzchen, so die Kohlröschen, die hier massenhaft vorkommen, die Mondraute und andere.9

Um 1880 war das Almgebiet über vier offizielle Routen erreichbar: aus dem Salzburger Lammertal (Abtenau), vom Brandwirt in Gosau über Ötscherbauer bzw. -anger, vom Gosauschmied und letztlich direkt vom Vorderen Gosausee über das sogenannte ,Krautgartl‘. Da Bruckner und sein Begleiter Vockner10 im Gasthaus Gosauschmied nächtigten, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie den von dort auf die Zwieselalm führenden Weg wählten.
Der Gosauschmied liegt am äußersten noch ebenen Rand des Ortsteils Gosau-Hintertal, wenige Meter bevor die Straße zum Vorderen Gosausee hin ansteigt. Neben dem Brandwirt war er lange Zeit der einzige Beherbergungsbetrieb in der Gosau; bis etwa 1925 waren die Besitzer jeweils auch für die Postund Personenbeförderung zuständig.11 1922, knapp 35 Jahre nach Bruckners Zwieselalmbesteigung, erschien Alfred von Radio-Radiis (1875–1957)12 noch immer unübertroffenes alpines Standardwerk zum Dachsteingebirge.13 Nachdem sich das Quellenmaterial zu Bruckners und Vockners Gemeinschaftstour in der oben zitierten Passage erschöpft, seien Basis für deren „Rekonstruktion“ verwendet. Detailliert, mit der Begeisterung des eingeschworenen Naturfreundes, beschreibt der Autor in teils fast literarischer Form die von den beiden Komponisten höchstwahrscheinlich beschrittene Wegstrecke. Zusammengesetzt und leicht gestrafft nachstehend folgende Auszüge:

[…] Vom Gosauschmied auf die Zwieselalmhöhe […] (2 ¼ St.)

Man geht vom Gosauschmied auf der prächtigen Fahrstraße, die zum Gosausee führt, etwa 25 Min. talein. Hier befindet sich zur R. Eine Wegtafel: „Gehund Reitweg auf die Zwieselalm.“ Auf dem rot. Bez. Weg geht es nach r. Gleich steil hinan, bis man nach 20-25 Min. r. vom Weg eine Ruhebank erreicht. Hierauf in geringerer Steilheit im Bogen nach l. hinüber. Hier zum ersten Mal Ausblick auf Dachstein, Torstein und Gosaukamm. In 5 Min. gelangt man zu einer Quelle mit Aussichtsbank. Nach weiteren 10 Min. steilen Anstieges trifft man auf eine ebenere Wegstrecke (Bank); nach abermals 10 Min. folgt ein Stück moosartiger Boden (Aussichtsbank). Nun in 10 Min. auf eine freie Fläche hinaus, auf der sich die Liesenhütten (Almhütten) und l. Unten eine Quelle befinden.
Hier ist der Anblick des Dachsteinstocks schon von großer Schönheit. Wir sehen außer Dachstein, Mitterspitz und Torstein nebst deren Ausläufern auch die kühnsten Gipfel des Gosaukamms, wie die Großwand, Großwandeck, Mandlkogel, die Donnerkogeln u.v.a.
Nach wenigen Minuten folgt eine Ruhebank im Wald, gleich darauf eine Weg tafel („50 Min. zum Gosauschmied“), nächst der sich … der Reitweg von Dorf Gosau mit dem vom Gosauschmied heraufkommenden vereinigt (1 ½ St. vom Gosauschmied). […] Durch die Waldblöße und durch einen Zaun hindurch, betritt man nach wenigen Min. den Wiesenplan der in der grünen Senke zwischen Zwieselalm und HoÅNhbühel gelegenen Braäuninghütten. Gleich darauf beginnt der Weg an den zur Zwieselalm emporziehenden Hängen, erst geradeaus, dann nach r. anzusteigen. Bevor man den letzten Waldgürtel betritt, hat man einen herrlichen Blick auf den Gosausee sowie auf den Gosaugletscher und seine Beherrscher. Eine langgestreckte, etwas steile Wegwindung, die auch steiler abgekürzt werden kann, bringt uns nach wenigen Min. um eine Ecke herum auf ebeneren Boden. Nach l. abbiegend führt der Weg mählich aus dem Wald heraus in eine grüne Mulde, die wir im Bogen nach r. ausgehen (l. vom Weg die letzte Quelle, 20 Min. von der Wegteilung). Hier sind wir nur mehr etwa 3 Min. vom Unterkunftshaus entfernt, das wir aber erst sehen, bis wir die letzte sanfte Bodenwelle betreten haben. Gleich darauf befindet man sich in 1429 m Seehöhe beim Unterkunftshaus „Alpenrose“.

Das Unterkunftshaus steht am Srand einer grünen Mulde hart am Fuße des letzten Aufbaus der Zwieselalmkuppe. W., zunächst der Hütte, befindet sich ein Sattel, von dem nach W. Gleichfalls eine grüne Mulde sich absenkt, in deren Grund sich die Edhütten befinden.

Der weitere Weg zur Zwieselalmhöhe beansprucht nur 15–20 Min. Er beginnt gleich hinter dem Haus an dem N.-Abhang etwas steil gegen W. anzusteigen, wendet sich bald gegen O. Und leitet, zuletzt über einige Meter felsigen Bodens, in eine grüne Mulde, von welcher man bereits das Gipfelkreuz erblickt (5–10 Min.). Diese in s. Richtung durchziehend, geht es, endlich etwas r. haltend, gegen die grüne Kammhöhe w. der Gipfelkuppe, die man bei einem ebenen Rasensattel erreicht (5–8 Min.). […] Der Weg zur Gipfelkuppe führt über den grünen Rücken sö. In 5 Min. zur Spitze.
Neben dem Gipfelkreuz befindet sich hier ein Gedenkstein: „Zur Erinnerung an das 40-jährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josefs, errichtet vom Veteranenverein Gosau-Abtenau-Annaberg, 18. August 1888.“

Etwa 50 Schritte s. an der grasigen Kuppe absteigend, gelangt man zu einer Aussicht (ehemals eine Bank), von der aus man erst den in gewaltiger Tiefe liegenden Vorderen Goasausee in seiner Gänze überblickt.14

Bruckners RouteAbb. 4: Ausschnitt aus der ÖAV-Karte Nr. 14, Dachsteingebirge 1:25.000 (Neuauflage 2005). Die von Bruckner und Vockner mutmaßlich begangene Route ist hervorgehoben.

Das Panorama, das sich Bruckner, Vockner und vielleicht noch anderen, ungenannt gebliebenen Begleitern von der Zwieselalmhöhe aus bot, war nahezu einzigartig. Erneut sei an dieser Stelle Radio-Radiis zitiert: Die Nah- und Fernsicht … ist von hervorragender Schönheit. Besonders eindrucksvoll das nahe Dachsteingebirge, dessen mächtiger Felsbau mit seinen Gletschern und Felshörnern über den beiden Gosauseen hoch in die Lüfte steigt. Ganz nahe sind die zerborstenen Felsgerüste der Donnerkogeln. Links vom Plassen sieht man Priel und Spitzmauer, rechts vom Plassen die s. Teile des Toten Gebirges. Im W. erhebt sich der mächtige Stock des Tennengebirges, zur L. überragt vom mächtigen Stock der Übergossenen Alm mit dem Hochkönig; zur R. des Tennengebirges erscheinen Watzmann, Hoher Göll und der breitwandige, langgestreckte Untersberg. Die Fernsicht auf die lange Reihe der Hohen Tauern (Ankogel, Hocharn, Glockner, Wiesbachhorn, Hoher Tenn, Kitzsteinhorn, Venediger) ist prächtig.

Der GosauschmiedAbb. 5: Aussicht von der Zwieselalmhöhe auf die Donnerkogeln. Ansichtskarte, um 1900.

Im N. erblickt man in malerischen Linien die Gebirge und Täler des Salzkammergutes.
15 Entsprechende Witterungsverhältnisse vorausgesetzt, wird Bruckner zweifelsohne beeindruckt gewesen sein. Und falls Vockner ein Kenner des Gebietes und der alpinen Landschaft war, hat er ihn wohl auch auf den Großglockner aufmerksam gemacht und so vielleicht die Enttäuschung von 1886 relativiert.
Vor allem muss Bruckner der nahe, mächtige Dachstein in seinen Bann gezogen haben; unmittelbare Reaktionen auf das Geschaute und Erlebte sind wie erwähnt nicht bekannt, doch eine erhaltene Taschenkalendernotiz lässt darauf schließen, dass er die Begegnung mit dem höchsten aller oberösterreichischen Berge nicht vergessen hat.

Neben der phänomenalen Aussicht gab es vielleicht aber noch einen zweiten Anlass für Bruckners und Vockners Wanderunternehmung: wie aus Radio- Radiis Texten ersichtlich (s. o.), war auf dem Gipfel der Zwieselalmhöhe am 18. August 1888 zu Franz Josefs 40-jährigem Regierungsjubiläum ein Kaiserdenkmal enthüllt worden. Dessen Einweihung hat Bruckner mit Sicherheit nicht beigewohnt – sein zeitgleicher Dienst in der Wiener Hofkapelle ist verbürgt17 –, Ende August oder Anfang September allerdings hielt er sich erwiesenermaßen in Ischl bei Attwenger auf.18 Möglicherweise war also die Besichtigung des neu errichteten Gedenksteins ein zusätzliches Motiv für den Ausflug, doch das ist und bleibt Spekulation.
Fest steht hingegen, dass der damals 64-jährige Bruckner durchaus konditionsstark gewesen sein muss, denn vom Gosauschmied bis zum Zwieselalmgipfel sind immerhin rund 850 Höhenmeter zu bewältigen. Bedenkt man die bei Bruckner ab und nach 1885 vermehrt auftretenden Leiden – unter anderem eine chronische Wasseransammlung in den Beinen und ein „Kehlkopfkatarrh“19 –, stellt diese Tour eine keinesfalls zu unterschätzende Leistung dar. Die vorhandene Alternative, sich mittels Sänfte auf die Alm hochtragen zu lassen,20 nahm der Komponist bewusst nicht in Anspruch; als bekannt guter Tänzer und Schwimmer hatte er sich offensichtlich auch im beginnenden Alter eine gewisse körperliche Fitness bewahrt.


Die Zwieselalm 2014


Abgesehen von der Panoramapracht eröffnet sich dem heutigen Zwieselalmbesucher ein grundlegend anderes Bild als zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die ehemals intakte, beschauliche Einheit zwischen Naturraum und Almgebiet existiert kaum noch. Seit Anfang der 1970er-Jahre ist das alpine Idyll durch die Inbetriebnahme von Pisten, Lift- und Seilbahnanlagen einer touristischen Infrastruktur gewichen, deren Ausbau weiter voranschreitet. Für den echten Naturliebhaber hat das Gelände damit – bei allem Verständnis für fremdenverkehrswirtschaftliche Interessen und Prioritäten – dramatisch an Reiz verloren.
Der übersäuerte und planierte Boden kann nur noch einer begrenzten Pflanzenwelt als Lebensgrundlage dienen, Quellen wurden durch Wasserspeicher für Beschneiungsanlagen ersetzt, usw. der Natur- und Kulturraum, den Bruckner, Vockner und die wandernden Kollegen vorfanden, ist unwiederbringlich verschwunden. Was bleibt, sind Radio- Radiis wunderbare Schilderungen und ein Gefühl von Wehmut und Schmerz, das sich bei deren Lektüre einstellt.

Zwieselalm 2014Auf die Beschreibung und Kommentierung der fotografischen Belege zum „Status Quo“ des Almgebiets wurde verzichtet. Die Bilder, sämtlich vom Autor stammend, sprechen für sich.


Artikel aus OÖ Heimatblätter 2015 Heft 1/2 von Dr. Klaus Petermayr

 

nach oben

 
  Home
  Zurück



Artikel als PDF downloaden (892 Kb)




Anton Bruckner (1890)
Anton Bruckner 1890. Foto: A. Huber, Wien


Anton Bruckners Taschenkalendereintrag
„9 bis 10 Kilometer (1 1/2 Meile) betrage die Entfernung des Dachsteins vom ersten Gosau=See.“16


Sänftenträger
„9 bis 10 Kilometer (1 1/2 Meile) betrage die Entfernung des Dachsteins vom ersten Gosau=See.“16



Fußnoten:

1 Zu diesen vgl. etwa Manfred Angerer: Naturbilder bei Liszt und Bruckner, in: Bruckner, Wagner und die Neudeutschen in Österreich. Symposion 1984. Linz 1986, S. 163–170.

2 Allein unter Berufung darauf stilisiert ihn der Wiener Musik-wissenschaftler Gernot Gruber zum Naturliebhaber. G. Gruber: Natur und Naturbildliches, in: Anton Bruckner. Ein Handbuch. Hg. Uwe Harten. Salzburg 1996, S. 306.

3 Andrea Harrandt: (Bad) Ischl, in: Anton Bruckner. Ein Handbuch. Hg. Uwe Harten. Salzburg 1996, S. 79. 4 Zur Biographie Attwengers vgl. Andrea Harrandt: Johann Nepomuk Attwenger, in: Anton Bruckner. Ein Handbuch. Hg. Uwe Harten. Salzburg 1996, S. 65.

5 Zu Goisern vgl. Andrea Harrandt: (Bad) Goisern, in: Anton Bruckner. Ein Handbuch. Hg. Uwe Harten. Salzburg 1996, S. 79.

6 Vgl. Albert Binna: Anton Bruckner in Linzer Volksblatt, 14. 5. 1932, o. S.

7 August Göllerich / Max Auer: Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild. Regensburg 1928–1937. Bd. IV/2, S. 605.

8 Ludwig Habicht: Eine Alpenfahrt, in: Wiener Abendpost, 11. 10. 1865, S. 920–931: 930.

9 Gustav Adolf Gassner: Österreichische Touristenzeitung, Jg. 1882, S. 261–262: 262.

10 Josef Vockner, stammend aus einer Ebenseer Lehrerfamilie, kam über Ischl nach Wien und wurde dort Bruckners Schüler. Der Überlieferung nach war er über Jahrzehnte hinweg ein enger Vertrauter des Komponisten. Zu seiner Biographie vgl. Norbert Tschulik: Der Bruckner-Schüler Josef Vockner, in: Bruckner Jahrbuch 1989/1990. Linz 1992,
S. 289–303.

11 Vgl. Paul Bauer: Das Gosautal und seine Geschichte. Linz 1971, S. 156.

12 Der in Florenz geborene Radio-Radiis entstammte einem alten Görzer Adelsgeschlecht. Er gilt als Pionier der österreichischen Fahrzeugindustrie und war passionierter Alpinist. Insgesamt gelangen ihm etwa 150 Erstbegehungen. Vgl. Deutsche biographische Enzyklopädie. Hg. Rudolf Vierhaus. München (2)2005 ff., S. 148.

13 Alfred von Radio-Radiis: Dachsteingebirge und die angrenzenden Gebiete. Wien 1922.

14 Ebenda, S. 271 f.

15 Ebenda, S. 272.

16 Ediert in Elisabeth Maier: Verborgene Persönlichkeit. Anton Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen Teil 1 (Anton Bruckner Dokumente & Studien 11). Wien 2001, S. 413.

17 Ebenda, S. 346.

18 Vgl. Franz Scheder: Anton Bruckner Chronologie. Tutzing 1996, S. 559.

19 Manfred Skope: Krankheiten und Tod Bruckners, in: Anton Bruckner. Ein Handbuch. Hg. Uwe Harten. Salzburg 1996, S. 240 f.

20 Dies belegen Bilddokumente aus annähernd dieser Zeit. Vgl. Bauer, Anm. 11, S. 258.