Er hätte uns prüfen sollen!

Bruckner hatte seine Kenntnisse und Fähigkeiten gerne schwarz auf weiß bestätigt. So legte er – auf eigene Bitte – am 22. November 1861 am Konservatorium in Wien die Lehramtsprüfung aus Harmonielehre und Kontrapunkt ab. Er erklärte sich dabei bereit, einen ihm vorgeschriebenen musikalischen Gedanken sogleich auf der Piaristenorgel als Fuge durchzuführen.
Der berühmte Musiktheoretiker Sechter gab ihm also ein viertaktiges Thema an. Herbeck regte an, da Thema um weitere vier Takte zu erweitern und dadurch die Schwierigkeiten noch gewaltig zu steigern. Sechter, dem dies zu hart schien, lehnte ab. "Nun, wenn Sie es nicht tun, dann tu eben ich es!" meinte Herbeck, worauf Sechter ihn tadelte: "Sie Grausamer!"
Bruckner setzte sich an die Orgel. Er begann nicht sofort, sondern sammelte zunächst alle Geisteskraft, um die höchst schwierige Aufgabe zu überdenken. Dann aber führte er das lange Thema als freie Fuge so vollendet im Bau und so kühn in der Anlage durch, daß sich heller Jubel unter der Prüfungskommission erhob und Herbeck mit Tränen in den Augen das Urteil aller in die schönen Worte kleidete: "Er hätte uns prüfen sollen!" Die Kommission stellte Bruckner ein glänzendes Zeugnis aus. Abermals machte sich Herbeck zum Sprecher aller, als er ausrief: "Wenn ich den zehnten Teil von dem wüßte, was der weiß, wäre ich glücklich!"

Quelle: Hans Commenda: Geschichten um Anton Bruckner", Verlag H.Muck